Tabu vs. Tabu (04.22)

Statue Rosengart

Deutsch

Chris macht sich öffentlich über eine kranke Frau lustig. Will, deren Ehemann, haut ihm eine runter. Vielleicht kennt ihr diese Geschichte, welche sich diese Tage an der Oscarverleihung abgespielt hat. Hollywood liefert uns da ein moralisches Dilemma, welches vielleicht sogar einmal seinen Platz im Philosophieunterricht finden könnte (Sie kennen vielleicht diese Gedankenspiele im Sinne von: Wenn sie wirklich keine andere Wahl haben, überfahren sie dann die alte Dame oder das Kind?).

Wir haben hier nämlich die spannende Situation, dass gleich beide Seiten einen Tabubruch begangen haben: Der eine macht einen politisch unkorrekten Witz, und der andere reagiert mit körperlicher Gewalt. Zudem können sich beide auf höhere Prinzipien berufen, um ihre an sich falsche Handlung zu rechtfertigen: Der eine macht Gebrauch vom höchsten Gut der Redefreiheit. Der andere verteidigt ritterlich die Ehre seiner Gattin. Und so erhitzt sich nun die Internet-Community ganz ernsthaft und emotional in der Debatte, wer nun wie hätte handeln dürfen. 

Das Leben ist voll von solchen Entscheidungen, wo wir zwischen der Pest und der Cholera wählen müssen. Ich bin christlich erzogen worden. Und dazu gehört das Grundprinzip, dass ich bei der Wahl zwischen Gut und Böse natürlich immer das Gute wähle und das Schlechte zurückweise. Nur, dass mir das Leben oft diese Wahl nicht erlaubt und ich mich nur zwischen Schlecht und Schlimmer entscheiden kann. Der scheinbare Ausweg, um meine moralische Integrität zu wahren, ist, dass ich weder das eine noch das andere Böse wähle, sondern – wegschaue. Ich war sieben Jahre Pastor einer Immigrationsgemeinde in Genf. Viele unserer Gemeindemitglieder waren sogenannte «Illegale», welche gesetzeswidrig in der Schweiz lebten. Es gehörte zu meinem Alltag, abwägen zu müssen, wie viel menschliches Unrecht welches Mass an Rechtsbruch rechtfertigt. Ich war oft gezwungen, mir entweder auf die eine oder andere Art moralisch die Hände schmutzig zu machen. Und das im Namen meiner christlichen Integrität. Das Richtige zu tun heisst manchmal, etwas Schlechtes zu tun (Wow, habe ich das als Pastor wirklich gesagt?). Denn, was noch schlechter ist, ist wegzuschauen und nichts zu tun. 

Die Wahl ist oft schwierig. Aber wenn ich etwas zum Guten bewegen will, gehört es zu meiner Verantwortung, dieses Risiko einzugehen und auch einmal falsch zu entscheiden. Nur wer nichts tut, macht keine Fehler. Dies ist zwar kein Bibelzitat, aber trotzdem wahr. 

Deshalb gilt meine Sympathie doch eher Will Smith. Er hat wohl die falsche Wahl getroffen. Aber er hatte sich entschieden, für das geschehene Unrecht aufzustehen und zu handeln. Aber vielleicht liege ich ja falsch… 

PS: Der eine hat sich unterdessen beim anderen öffentlich und vorbehaltlos entschuldigt. Es war übrigens nicht Chris…

Andi Fuhrer 

Kommentare

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  1. Silvia Flückiger

    Hm. Gewalt in diesem Kontext für mich keine gute Entscheidung. Ich kann den Impuls von Will verstehen, trotzdem finde ich es zu impulsiv. Nachher darüber reden? Will hätte Chris auch schreiben können? Will war sehr ausfällig. Zuerst hat Will gelacht.

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  2. Igor

    Den Verletzten zu schützen, ist ein Prozess der Überschreitung seiner eigenen Anstrengung. Immerhin muss man die Schwäche des einen durch die Kraft des anderen kompensieren. Die Hauptsache ist, das Maß zu kennen. Solche öffentlichen Beispiele sind wunderbare Lektionen. Sie bringen die Leute zum Nachdenken. Gott kann auch Filme machen. Und jeder kann einen Oscar von ihm bekommen. Für die richtigen Schlüsse aus dem Film des Lebens.

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