Mir ist (un)wohl (09.22)
Im Moment stehen die Chancen gut, dass „unwohl“ zum Wort des Jahres gekürt werden könnte. Oder zum Un-Wort – je nach dem, wen man fragt.
Bei dieser Diskussion, die sich vordergründig um Begriffe wie „kulturelle Aneignung“, „Cancel Culture“ und vor allem weisse Dreadlocks dreht, geht es eigentlich um seriöse Themen wie Respekt gegenüber dem Anderen und die Anerkennung von Ungerechtigkeit. Dabei wird es mir selber zunehmen unwohl, wenn ich sehe, wie wir heute versuchen, unsere Welt zu verbessern: Versuchen wir da nicht manchmal, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben? Um Unterdrückung zu denunzieren, wird die Meinung Andersdenkender verboten. Respekt wird laut und rücksichtslos durchgesetzt. Man denunziert Egoismus mit harschen Forderungen. Auf Korruption wird mit Sachbeschädigung reagiert und auf Machtmissbrauch mit Aggression. Kann Unrecht wirklich mit Unrecht zurechtgebogen werden?
Plötzlich kam mir da wie eine provozierende Antithese der Refrain einer uralten Hymne in den Sinn: „Mir ist wohl in dem Herrn“ (im englischen original: „It is well with my soul“). Aus Neugierde habe ich dieses Lied mal gegoogelt und bin auf die erstaunliche Geschichte dahinter gestossen. 1871 brannte ein grosser Teil Chicagos nieder. Horatio Spafford verlor dabei in den Flammen seine ganze Habe – und seinen Sohn. Trotz seinem Schmerz setzt er sich für die Opfer der Stadt ein. Zwei Jahre später sterben seine restlichen vier Kinder bei einer Schiffskatastrophe. Trotz seines unbegreiflichen Leids hält er an seinem tiefen Glauben an Gott fest und schreibt als Reaktion dieses Lied, dessen erster Vers so lautet: Wenn Friede mit Gott meine Seele durchdringt, ob Stürme auch drohen von fern, mein Herze im Glauben doch allezeit singt: „Mir ist wohl, mir ist wohl in dem Herrn“.
Danach siedelte er mit seiner Frau nach Jerusalem und baute dort ein Hilfswerk auf, von dem unzählige Juden, Christen und Muslime profitierten. Das Spafford Children‘s Hospital in Ost-Jerusalem existiert noch immer.
Liebe Grüsse
Andi Fuhrer