Gottes Gerechtigkeit (2023-10)

Deutsch

Zu meinen prägenden Kindheitserinnerungen gehört, dass meine Brüder und ich ziemlich genau abschätzen konnten, ob das jeweilige Drittel Bratwurst in unseren drei Tellern auch wirklich ganz genau gleich gross war. Mein Sprössling wächst heute als Einzelkind auf und kennt solche Probleme nicht. Aber er reagiert wohl auf wenige Sachen so empfindlich wie wenn jemand gemobbt, diskriminiert oder sonstwie benachteiligt wird. Für die Rechte einer Minderheit geht er gerne auch mal auf die Strasse protestieren. Da wölbt sich meine Brust durchaus mit etwas väterlichem Stolz. Wenn der Starke den Schwachen ausnützt und dabei noch ungeschoren davonkommt, kann dies bei den meisten von uns sehr starke Reaktionen hervorrufen, insbesondere, wenn wir uns selber ungerecht behandelt fühlen. Wenn ich mich zudem nicht einmal wehren kann, dann kommt das noch schmerzhaftere Gefühl der Ohnmacht dazu. Da mag es eine Genugtuung sein, zu wissen, dass über allem noch ein Gott thront, vor dem in letzter Instanz alle einmal Rechenschaft ablegen müssen. Aber, ehrlich gesagt, bleibt für mich diese Aussicht manchmal auch ein ziemlich abstrakter Trost, zumal sich Gottes Justizverständnis oft nicht unbedingt mit meinem persönlichen Empfinden für Gerechtigkeit deckt. Da ist er einerseits bereit, die übelsten Dinge zu vergeben und kann andererseits auf kleinsten Nuancen beharren. «Du sollst dies nicht tun und jenes nicht unterlassen», sonst hat Gott keine Freude. Und ohne es zu merken, bin ich beim Reflektieren von Gottes universeller Gerechtigkeit beim engen Thema der christlichen Moral gelandet. Typisch Kirche. Aber schon im Alten Testament warf Gott seinem Volk vor, Frömmigkeit und Gerechtigkeit zu verwechseln. Dabei ist es sehr interessant, einmal zu schauen, worum es sich jeweils handelt, wenn in der Bibel von Gottes Gerechtigkeit die Rede ist. Es geht eigentlich nie wirklich um die Anwendung von Gesetzen, sondern durchgehend um das, was wir heute soziale Gerechtigkeit nennen. Sehr frei und salopp zusammengefasst, ereifert sich Gott in Jesaja 58: «Ich pfeiff’ auf eure Vorzeigefrömmigkeit und die tollen Gottesdienste! Was ich will, ist, dass ihr euch um die Witwe, den Waisen und den Fremdling kümmert! » Jesus illustriert das abschliessende göttliche Gericht auf eine interessante Weise. Als Kriterium, um bei Gott aufgenommen zu werden, nennt er: Habe ich den «Geringsten» im Gefängnis besucht oder ihm ein Glas Wasser gereicht, als wäre es Jesus selber? Das ist schon fast ein werkgerechter Gingg ans Schienbein unserer reformiert-evangelikalen Rechtfertigung-aus-Gnade-allein-Theologie… Als Jesus seinen Jüngern die geistlichen Prioritäten erklärte und sie aufforderte, zuerst das «Reich Gottes und seine Gerechtigkeit» zu suchen, anstatt sich um das eigene Wohlergehen zu sorgen, sagte er eigentlich: Überlasst es mir, mich um eure Sorgen zu kümmern. Dann seid ihr frei, um das zu tun, was mir wirklich am Herzen liegt: Setzt euch für die Schwachen, Einsamen und Benachteiligten ein. Dadurch geschieht mehr Gerechtigkeit in dieser Welt und Gottes Reich breitet sich aus. Vielleicht wird dabei halt auch mein priesterliches Dienstgewand (oder bei uns die Heilsarmee-Uniform) etwas schmutzig. 

Mit lieben Grüssen

Andi Fuhrer