Nicht normal (2025-03)

Heute Morgen stand ich an einer Kreuzung am Fussgängerstreifen und wartete auf das grüne Männchen. Unterdessen betrachtete ich die Autofahrer, die vor meinen Augen scharf um die Ecke bogen. Da war eine junge Frau mit Bubikopf am Steuer eines flaschengrünen Sportwagens aus den 50ern. Anschliessend fuhr ein älterer Herr mit buschigem Schnurrbart und Hut an mir vorbei. Während der ganzen Kurve blickte er äusserst konzentriert auf mich, anstatt auf die Fahrbahn zu schauen. Dann erinnere ich mich an eine elegante, betagte Frau mit perfekter, tiefschwarzer Frisur und knalligem Lippenstift, die sich sehr konzentriert am Steuer festhielt. So fuhr ein Auto nach dem anderen an mir vorbei. Bei jedem Fahrer viel mir etwas Besonderes auf. Ich stellte fest: es gibt keine normalen Menschen.
Ich fragte mich dann, wie eine normale Person denn aussehen würde. Ich weiss es ehrlich gesagt nicht, denn auch unter den Leuten, welche ich danach auf dem Fussgängerstreifen kreuzte, war keine zu finden.
Ich wuchs in einer Pastorenfamilie in der Heilsarmee auf. Da gehörten Uniform, militärische Ausdrucksweise und zwei Gottesdienstbesuche am Sonntag schon als Kind zu meiner Normalität. Dass die böse Frau mit dem schwarzen Kleid, welche mir und meinen Brüdern mit ihrem Zeigefinger das Leben schwer machte, offenbar «Serschantmajorin» hiess, fand ich erst später irgendwie seltsam…
Später, zu meiner Konfirmation, wollte ich eine elektrische Bassgitarre. Dass dies nicht gut sei, schrie mir ein weiterer stolzer Uniformträger in die Ohren, als er mir sehr öffentlich und sehr laut zu verstehen gab, dass ich mit solch einer Rockgitarre vom Teufel besessen sei.
Glücklicherweise waren diese Erinnerungen für mich nicht die Norm, und sie haben mich nicht davon abgehalten, selbst Heilsarmee-Offizier zu werden. Auch ich habe eine Uniform (irgendwo in einem Schrank) und einen Grad (irgendwo auf meiner Visitenkarte). Nur Blasmusik mache ich keine mehr.
Ich denke, Religion hat tatsächlich die Tendenz, uns in Normen hineinzwängen zu wollen. Ich glaube aber, dass es vollkommen falsch ist, daraus abzuleiten, dass auch Gott das möchte. Das zeigt sich schon in der Schöpfung. Schauen sie sich die Vielfalt der Natur an und versuchen sie, da eine «Norm» abzuleiten. Gott ist kreativ. «Hüselipapier» haben die Menschen erfunden.
Darüber, dass Jesus eine Vorliebe hatte für den Umgang mit Menschen, welche nicht so waren, wie sie sein sollten, und dass er mit den «Angesehenen» ein ziemlich konfliktreiches Verhältnis hatte, wurde schon so viel geschrieben und gesagt, dass es hier nur erwähnt sei. Zu meinen, dass jemand, dessen Leben, Identität und Botschaft so grundsätzlich von allem Etablierten abwich, von mir erwarten könnte, ich und mein Leben sollten einer Norm entsprechen, scheint mir ein schon fast abenteuerlicher Gedanke. Im Gegenteil. Jesus sagte: «Kommt alle her zu mir, die ihr euch abmüht und unter eurer Last leidet! Ich werde euch Ruhe geben».
Dabei glaube ich, dass diese Ruhe sogar mehr ist als nur Befreiung von religiösem oder gesellschaftlichem Erwartungsdruck. Ich finde darüber hinaus in meiner Beziehung zu Gott einen Raum, wo ich mich in meiner ganz persönlichen Eigenart, wie mich mein Schöpfer gemacht hat, entfalten und heil werden kann.
Mit lieben Grüssen
Andi Fuhrer
Kommentare
Hinterlasse einen Kommentar