Sünder und Heilige am Tisch des Herrn (08-2025)

Sünder und Heilige am Tisch des Herrn
Schon länger und immer wieder fasziniert mich Leonardo da Vincis berühmtes Gemälde vom letzten Abendmahl, welches übrigens mit neun Metern Länge auch sein grösstes war (nein, nicht die unten abgebildete Version 😉 … Aber Sie kennen das Original bestimmt!) Die Frage, mit der ich in letzter Zeit immer wieder und auf unterschiedliche Weise konfrontiert bin: Wer darf an diesen Tisch sitzen?
Falls Sie mit dem Thema nicht schon vertraut sind, dann googeln Sie mal nach der Frage, ob Judas Ischariot, der Verräter, beim Abendmahl dabei war oder nicht. Es finden sich auffallend viele Blogs und andere Seiten, wo hauptsächlich argumentiert wird, dass Judas bestimmt nicht anwesend war, da er es nicht sein durfte. Denn als Verräter des Christus konnte er die Kriterien für die Teilnahme unmöglich erfüllt haben. Die untereinander nicht deckungsgleichen Bibeltexte zeigen hier eine gewisse (gottgewollte?) Unschärfe, und wir tendieren wohl alle dazu, unklare Stellen so zu interpretieren, dass sie zur eigenen Theologie passen. Was klar ist: Am Anfang des Mahls sagte Jesus zu seinen geladenen Gästen, den zwölf Jüngern: «Mit grosser Sehnsucht habe ich danach verlangt, vor meinem Leiden dieses Mahl mit euch zu essen.» Zu diesem Zeitpunkt war Judas jedenfalls noch anwesend.
Zurück zu Leonardos Darstellung.
Auf den ersten Blick sieht das Bild sehr formalisiert aus. Der Künstler folgt den Gepflogenheiten der Renaissance und zelebriert die Wiederentdeckung der Perspektive. Anders als damals üblich, malt da Vinci Jesus und die Jünger ohne heilige Attribute. Auch Judas sitzt nicht abgesondert, sondern mitten in der Gruppe. Er hat soeben seinen Becher umgestossen. Petrus hat ein Messer in der Hand. Die Anwesenden sind gleichzeitig in mehrere, sichtbar sehr engagierte Diskussionen verwickelt. Ausser Johannes, welcher auffallend feminin dargestellt ist. Der scheint zu träumen. Da ist weder Einheit noch Harmonie. Die Stimmung scheint aufgeladen und sehr un-feierlich, irgendwie un-kirchlich, ja gar un-heilig zu sein. Oder anders gesagt: real.
Die Jünger waren normale, unheilige Menschen wie Du und ich. Diese kunterbunte Truppe widerspiegelte das breite Spektrum (und die Gräben) der damaligen Gesellschaft. Ich bin mir sicher, dass Judas nicht der einzige war, welcher nicht dem Klischee des perfekten Kirchgängers entsprach.
Da Vinci setzt die Geometrie des Raumes dafür ein, um den Blick des Betrachters auf das Zentrum zu lenken. Trotz aller Spannung und Unruhe steht alles und jeder auf dem Bild in Beziehung mit diesem ruhenden Jesus in der Mitte. Und gleichzeitig ist er selber mit den anderen verbunden und nimmt an ihren Gesprächen teil.
Zurück zur Frage, die für viele Gläubige so dringend scheint: Wer darf mit Jesus am Tisch sitzen (und wer nicht)?
Ich glaube, Jesus würde darauf erstaunt – wenn nicht entsetzt – entgegnen: «Habt ihr denn gar nichts kapiert?! Meine Frage lautet: Wer möchte gerne mit mir an diesen Tisch sitzen?»
Liebe Grüsse
Andi Fuhrer
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