Winnetou und die Jesus Culture (2023-03)

Deutsch

Ich übe gerade für einen Gig ein gutes Dutzend chansons françaises ein. Nach beinahe 20 Ehejahren eigne ich mir mit Gainsbourg, Asnavour et compagnie endlich mal ein wichtiges Stück Kultur meiner französischen Frau an.
Dabei dachte ich, das «woke» Thema der kulturellen Aneignung sei schon fast wieder eingeschlafen. Aber zum Glück war gerade Fasnacht. Wenn auch vielerorts Winnetou sich nur mehr inkognito auf die Strassen wagte, fragten die Basler ganz frech und mit vielen Dreadlocks: «waggis oder woogis nid?»
Auf der einen Seite eignet sich eine kleine, laute Gruppe die Anliegen von Minderheiten an, denen sie selber nicht angehört. Sie will mit religiösem Eifer Andersdenkende zur Toleranz bekehren und setzt sich für «Pure Culture» ein. Das sehe ich genauso: Ananas gehört nicht auf die Pizza.
Auf der entgegengesetzten Seite will man offenbar das Gleiche und sagt im Namen der Mehrheit dem linken Wokeismus den Kampf an, um unsere Schweizer Kultur rein zu behalten. Wie gesagt: Ananas gehört nicht auf den Raclette-Käse.

Vielleicht wäre der Schlüssel zu einem respektvollen, friedlichen Miteinander von ganz unterschiedlichen Menschen ja tatsächlich in der Aneignung einer Kultur zu suchen, welche uns heute erstaunlicherweise sehr fremd geworden ist, nämlich in der «Jesus Culture».
Einer der zentralsten Werte in Jesu Lehre ist die Demut. Dabei geht es nicht darum, sich klein zu machen. Es ist vielmehr ein starker Ausdruck der Nächstenliebe, indem wir unseren Mitmenschen und ihren Bedürfnissen den Vortritt geben. So wird es unnötig, dass wir uns voneinander abgrenzen und unsere Ansprüche laut verteidigen müssen. Gegenseitig gelebte Demut nimmt jeglicher Diskriminierung den Wind aus den Segeln und hebelt menschliche Macht aus. Dann kommt jeder auf seine Rechnung, alle haben genug und niemand muss sich seine Rechte gewaltsam einfordern. Dann muss Kapitalismus nicht durch Kommunismus und Machismus nicht durch Feminismus bekämpft werden. Dann braucht es keinen Wokeismus, um die Gesellschaft aufzuwecken, und die LGBTQIA2S+-Community muss sich nicht überlegen, welche Buchstaben und Sternchen frau noch hinzufügen könnte.
Und dann kann ich weiterhin fröhlich als Deutschschweizer mit einem Chilenen französische Chansons verjazzen. Auch wenn mir angesichts der Pizza Hawaii meines Nachbarn kulinarisch unwohl ist.
Mit lieben Grüssen
Andi Fuhrer